Maira Kalman

Ästhetik des Nützlichen
Die Illustratorin, Malerin und Autorin Maira Kalman achtet sehr darauf, was sie in ihr Leben lässt: Nachrichten liest sie kaum, ihr Terminkalender ist selten voll und auf soziale Medien verzichtet sie komplett. Stattdessen erfreut sie sich am Fluss des kreativen Arbeitstages.
Die Illustratorin Maira Kalman arbeitet in ihrem Studio an einem Herman Miller Aeron Remastered.

„Ich stelle mir vor, in einem Kokon zu sein und von dort aus zu gestalten. Hier kann ich mir Zeit nehmen, ohne alles Mögliche sehen und tun zu müssen. Hier kann ich mich an dem erfreuen, was immer der Tag mit sich bringt.“

⁠-⁠ Maira Kalman
Die Künstlerin Maira Kalman arbeitet an einem Gemälde in einem hellen Atelierraum von ihrem Onyx Herman Miller Aeron aus.

Verbindungen erkennen

Auch in ihrem Studio in New York City achtet Maira sehr darauf, welche Dinge sie umgeben, denn sie möchte nichts sehen, das ihr nicht gefällt. Zu ihren Lieblingsobjekten gehören ein Bügeleisen, ein Spülllappen, den eine Freundin genäht hat, und Stühle. „Stühle haben es mir wirklich angetan“, erklärt sie. „Doch wie lässt sich dieser Blick für das Wundervolle an Dingen, denen wir begegnen, definieren?“

Die Antwort könnte „Nützlichkeit“ lauten, schlägt Maira vor. „In jedem Stuhl steckt mehr als reine Ästhetik: Sie sind zum Sitzen da; wir leben mit ihnen. Jeder Gegenstand hat eine Bedeutung und einen Nutzen – und die Existenz eines jeden Objekts hat einen Grund. Eine Definition von ‚gutem Design‘ ist dessen Unvermeidbarkeit. Zunächst mag es originell wirken, doch letztendlich scheint das Ergebnis unumgänglich zu sein.“

Auch in ihren eigenen Arbeiten verfolgt Maira einen utilitaristischen Ansatz. „Vielleicht ist es eine triviale Feststellung, aber dennoch: Die Kunst ist es, alles Überflüssige wegzulassen.“ Musik, Filme, Bücher: Maira lässt diese Dinge „durch ihr Leben fließen“. Sie verbringt viel Zeit mit Spaziergängen und mit sich allein in ihrem Studio. Einen Facebook-Account hat sie nicht und folgt auch niemandem auf Instagram. Zeitunglesen ist ebenfalls nichts für sie. „Ich befinde mich in einem Kokon. Doch es ist ein sehr aktiver und lebendiger Kokon. Arbeiten, Schreiben, Malen – ihr bin quasi in einer ganztägigen Meditation. Eine Fülle von Dingen sorgt dafür, dass ich einerseits nicht dazu gehöre, aber gleichzeitig mit allem verbunden bin.“
Das Heimatelier der Autorin und Künstlerin Maira Kalman, mit einem Herman Miller Aeron.

Im Geiste von Proust

Anstelle der täglichen Zeitungslektüre tritt bei Maira Marcel Proust. Ihn zu lesen hat sie sich vor mehr als einem Jahrzehnt zur Gewohnheit gemacht. „Ich wollte unbedingt Proust lesen, brauchte aber eine Art Begleitung“, erklärt sie. Als sie begann, alle Frauen in ihrem Bekanntenkreis zu fragen – „was immer du brauchst, sprich einfach so viele Frauen um dich herum an, wie du kannst, und du wirst finden, was du suchst“ –, entstand eine Proust-Lesekreis. „Es hat sieben Jahre gedauert, alle sieben Bände zu lesen. Doch es hat sich bewahrheitet: Bei Proust gibt es auf jede Frage des Lebens eine Antwort. Es erspart dir einen Aufenthalt in der Psychiatrie. Wer einen Seelenklempner braucht, sollte es zunächst mit Proust versuchen – und sich ein paar Groschen sparen.“

Einen Teil der Tageszeitung liest Maira allerdings dennoch: „Ich lese die Traueranzeigen“, gibt sie zu. „Es sind schön geschriebene Kurzbiografien. Jemand der die Gugelhupf-Form erfunden hat, ein Mensch, der andere Menschen vor dem Konzentrationslager bewahrt hat, einer, der wundervolle Musik komponiert hat: Solche Geschichten inspirieren mich für den Tag. Ich lese sie und frage mich: ‚OK, was wird mein Ding sein?’“
Die Werkzeuge, Materialien, Farben und Medien, die Maira Kalman zur Herstellung ihrer Kunst verwendet.

Die Herausforderung, Neues zu kreieren

Trotz ihrer vielseitigen Karriere – immerhin hat Maira mehr als 30 Bücher geschrieben und illustriert, 15 Titelseiten für den New Yorker gestaltet und ihre Werke im Museen rund um die Welt ausgestellt –, gesteht Maira ein, dass es ihr Unbehagen bereitet, Neues zu beginnen. „Ich finde Anfänge reizvoll, doch zugleich erfüllen mich mit Ehrfurcht“, führt sie aus. Immer wieder fragt sie sich: „Ist das interessant? Ist es langweilig? Ist es gut? Schlecht? Zweifel sind allgegenwärtig. Und so sollte es auch sein, denn ohne sie, wundern wir uns nicht wirklich.“

Maira nimmt die gemischten Gefühle aus Nervenkitzel und Angst gern an, da sie weiß, beide sind notwendig, um bei jedem neuen Projekt herauszufinden, was zum Ausdruck gebracht werden möchte. Wie alles im Leben sind sie eng miteinander verknüpft. „Ohne Leid, gäbe es keine Anmut, und ohne eine gewisse Tragik gäbe es keine Freude“, stellt sie fest.

Etwas Neues zu gestalten, erfordert außerdem eine Unerschrockenheit, die Maira zusagt. Ganz gleich, ob es sich dabei um einen Film, um ein Musikstück, ein Gemälde oder schlichtweg um einen Stuhl handelt. Jedoch warnt sie; „Wer sich am potenziellen Markterfolg orientiert oder einem Trend nacheifert, ist verloren. Nur wenn du dich an deine eigene Geschichte hältst, können sich neue Geschichten entwickeln. Und die brauchen wir, denn sonst sind wir am Ende.“